Montag, 21. November 2016

Reise ins Heilige Land (VII): Yad Vashem



Der eindrücklichste Teil unserer Reise ist der gemeinsame Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Avi, der Sohn eines litauischen Juden, Nureddin, der Sohn eines anatolischen Türken und ich, der Sohn des Volkes, welches das ganze Unheil angerichtet hat, gehen durch die Galerie der schrecklichen Bilder und Dokumente. Meist lasse ich die beiden allein gehen und reden und betrachte die Filme und Bilder, von denen man sich immer wieder abwenden muss, weil man es nicht erträgt.

Avi erzählt die Geschichte seiner um das Jahr 1930 geborenen Eltern, die jeweils als einzige in ihrer Familie die Schoah überlebt haben. Nureddin ist in seiner Kölner Gymnasium von einem geschichtsbewussten Lehrer sehr gut über den Holocaust unterrichtet worden. Aber das, was in Yad Vashem angezeigt wird, dringt noch einmal tiefer in sein Herz ein als alles, was er vorher wusste.

Für ihn, der oft intuitiv für die Muslime Partei ergreift (so wie ich für die Juden), ist die Geschichte der Holocaust-Flüchtlinge, die sich zum Teil mit List oder Gewalt den Weg nach Israel freigekämpft haben, hier noch einmal lebendig nachzuverfolgen. Unter den Kindern, die 1945 auf verschneiten Schleichwegen über die Alpen ein Schiff nach Israel erreichen wollten, das in der Adria auf sie wartete, ist auch Avis Mutter gewesen. Sie wird zwar in dem kleinen Film nicht gezeigt, der in der Ausstellung läuft, aber in den Erzählungen von Avi ist sie jederzeit lebendig. Sie lebt hochbetagt in Tel Aviv und hat kürzlich die dokumentarische Verfilmung ihrer Flucht noch sehen können.

Warum sind die Holocaust-Überlebenden nach Israel gekommen? Weil sie niemand in Europa mehr haben wollte. Avis Vater hat sich als halbes Kind von Dachau aus alleine auf den Weg gemacht, um seine litauische Heimat zu erreichen. Er hat dort aber keine lebendige Seele aus seiner alten Litauer Familie mehr wiedergefunden.

In Litauen spielt auch die Geschichte der Massenerschießungen 1941 in Ponar, einem Ausflugsort in der Nähe von Vilnius. Damals hat ein kleiner Junge ein Lied geschrieben, das zu einer Art Hymne der Holocaust-Überlebenden wurde, Shtiler, shtiler, lomir shwaygn (Still, still, lasst uns schweigen).

Avi liest mir die hebräische Übersetzung des Liedes vor, die auf die weiße Wand geschrieben sind, und entdeckt dann, dass ein Stück daneben, ebenfalls in hebräischer Schrift, die jiddische Version steht. Die können wir langsam, Wort für Wort, gemeinsam lesen. Und zum Schluss singt mir Avi das ganze Lied in Jiddisch vor.

Aus dem Internet habe ich mir mit Avis Hilfe später den kompletten Text besorgt. Und dazu auch die schöne gesungene Version mit der Sängerin Khava Albershteyn (siehe oben). Das Lied ist ein Zeugnis dafür, dass selbst in der finstersten Nacht der Menschenvernichtung die Schönheit und der Reichtum des Menschlichen nie aufgehört hat.


shtiler, shtiler, lomir shwaygn,
kvorim vaks do.
s´hobn zey farflantst di sonim:
grinen zey tsum blo.
s´firn vegn tsu Ponar tsu,
s´firt keyn veg tsurik.
iz der tate vu farshvundn
un mit im dos glik.
shtiler, kind mayns,
veyn nisht, oytser,
s´helft nisht keyn geveyn,
undzer umglik veln sonim
say vi nisht farshteyn.
s´hobn breges oykh di yamen,
s´hobn tfises oykhet stamen.
nor tsu undzer payn
keyn bisl shayn.

friling oyfn land gekumen
un undz harbst gebrakht.
iz der tog haynt ful mit blumen,
undz zet nor di nakht.
goldikt shoyn der harbst
oyf shtamen,
blit in undz der tsar.
blaybt faryosmt vu di mame,
s´kind geyt oyf Ponar.
Vi di Vilye a geshmidte,
t´oykh geyokht in payn,
tsien kries ayz
durkh Lite
itst in yam arayn,
s´vert der khoyshekh vu tserunen,
fun der fintster laykhtn zunen.
Rayter, kum geshvind –
Dikh ruft dayn kind.

Shtiler, shtiler, s´kveln kvaln
Undz in harts arum.
Biz der toyer vet nisht faln
Zayn mir muzn shtum.
Frey nisht, kind, zikh,
Síz dayn shmaykhl,
Itst far undz farrat.
Zen dem friling zol der soyne
Vi in harbst a blat.
Zol der kval zikh ruik flisn,
shtiler zay un hof.
Mit der frayhayt kumt der tate –
Shlof zhe, kind mayns, shlof.
Vi di Vilje a bafrayte,
vi di beymer grin – banayte,
laykht bald frayhayts – likht
oyf dayn gezikht.


Still, still, lasst uns schweigen,
Gräber wachsen hier.
Die Feinde haben sie gepflanzt,
wachsen sie grün ins Himmelblau.
Es führen Wege nach Ponar hin,
kein Weg führt zurück.
Ist der Vater dort verschwunden
und mit ihm das Glück.
Still, mein Kind, weine nicht, Schatz,
es hilft kein Weinen.
Unser Unglück werden die Feinde
ohnehin nicht verstehen.
Selbst die Meere haben Grenzen,
die Lager haben Zäune,
nur unsere Qual
nimmt kein Ende.

Frühling ist ins Land gekommen,
hat uns den Herbst gebracht.
Ist der Tag heute auch voller Blumen,
uns sieht nur die Nacht.
Vergoldet der Herbst
Schon die Zweige,
blüht in uns der Schmerz.
Eine Mutter bleibt vereinsamt,
ihr Kind muss nach Ponar.
Die im Eis gefesselte Wilja
Hat auch vor Qualen gestöhnt.
Es jagen Eisschollen
durch Litauen
jetzt ins Meer hinein.
Die Finsternis zerrinnt,
aus dem Dunkel leuchten Sonnen.
Reiter, komm´ geschwind,
dich ruft dein Kind.

Stiller, stiller, es brodeln Quellen
in unseren Herzen.
Doch solange die Tore nicht fallen,
müssen wir stumm bleiben.
Freu´ dich nicht, Kind,
dein Lächeln ist jetzt
für uns Verrat.
Der Feind soll den Frühling
Erleben wie das Blatt den Herbst.
Lass die Quelle ganz leise fließen,
sei still und hoffe …
Mit der Freiheit kommt der Vater,
schlaf doch, mein Kind, schlaf.
Wie die eisbefreite Wilja,
wie die grün erblühenden Bäume,
so leuchtet bald das Freiheitslicht
auf deinem Gesicht.



שטילער, שטילער, לאָמיר שװײַגן,
קבֿרים װאַקסן דאָ,
ס'האָבן זײ פֿאַרפֿלאַנצט די שׂונאים
גרינען זײ צום בלאָ.
ס'פֿירן װעגן צו פּאָנאר צו,
ס'פֿירט קײן װעג צוריק,
איז דער טאַטע װוּ פֿאַרשװוּנדן,
און מיט אים דאָס גליק.
שטילער, קינד מײַנס,װײן ניט, אוצר,
ס'העלפֿט ניט קײן געװײן,
אונדזער אומגליק װעלן שׂונאים,
סײַ װי ניט פֿאַרשטײן.
ס'האָבן ברעגעס אױך די ימען,
ס'האָבן אױך די תּפֿיסות צאַמען,
נאָר צו אונדזער פּײַן
קײן ביסל שײַן
קײן ביסל שײַן.

פֿרילינג אױפֿן לאַנד געקומען,
און אונדז האַרבסט געבראַכט.
איז דער טאָג הײַנט פֿול מיט בלומען,
אונדז זעט נאָר די נאַכט.
גאָלדיקט שױן דער האַרבסט אױף שטאַמען,
בליט אין אונדז דער צער,
בלײַבט פֿאַריתומט װוּ אַ מאַמע,
ס'קינד גײט אױף פּאָנאַר.
װי די װיליע אַ געשמידטע
ט'אויך געיאָכט אין פּײַן,
ציִען קריעס אײַז דורך ליטע
גלײַך אין ים אַרײַן.
ס'װערט דער חושך װוּ צערונען
פֿון דער פֿינצטער לײַכטן זונען
רײַטער, קום געשװינד
דיך רופֿט דײַן קינד.

שטילער, שטילער, ס'קװעלן קװאַלן
אונדז אין האַרץ אַרום.
ביז דער טױער װעט ניט פֿאַלן
מוזן מיר זײַן שטום.
פֿרײ ניט, קינד, זיך, ס'איז דײַן שמײכל
איצט פֿאַר אונדז פֿאַרראַט,
זאָל דעם פֿרילינג זען דער שׂונא
װי אין האַרבסט אַ בלאַט.
זאָל דער קװאַל זיך רויִק פֿליסן
שטילער זײַ און האָף...
מיט דער פרײַהײט קומט דער טאַטע
שלאָף זשע, קינד מײַן, שלאָף.
װי דער װיליע אַ באַפֿרײַטע,
װי די בײמער גרין באנײַטע
לײַכט באַלד פֿרײַהײטס־ליכט
אױף דײַן געזיכט,
אױף דײַן געזיכט


1 Kommentar:

Avi Deul hat gesagt…

No words, dear Christian. Thank you :(