Donnerstag, 1. September 2016

Mystik (I): Die Kraft der Erinnerung



In Charles Taylors großem Buch über die Moderne ("Ein säkulares Zeitalter") sucht der tief in seiner christlichen Erziehung verwurzelte Philosoph nach neuen Wegen zu einer Rückgewinnung des Glaubens in einer glaubenslos gewordenen Welt.

Taylor steht vorsichtig vor einem Rückweg aus der Entzauberung der modernen Welt. Der Zauber soll wiederentdeckt werden, so wie ihn die Menschen früherer Generationen noch gekannt haben. Er kann uns Heutigen eine Vision eröffnen, durch die wir in die Realität einer anderen Welt schauen. Taylor beschreibt gleich zu Beginn des Buches das Bekehrungserlebnis eines jungen Mannes, dessen Ausgangspunkt das visionäre Erlebnis von Fülle (fullness) ist, eine mystische Naturerfahrung, die sein Leben völlig ändert.

Am Ende seines Buches fragt Taylor nach modernen Mystikern und beschreibt einige von ihnen. Zwei davon ihnen will ich hier kurz vorstellen und beginne mit dem französischen Katholiken Charles Péguy (1873 - 1914). Péguy hat von einer mystischen Kette der Erinnerung gesprochen, deren Glieder die vielen Generationen der Christen sind, die vor uns gelebt haben.  Sie sind Hand in Hand stehend aufgereiht zu einer Kette, die bei den Aposteln und bei Jesus endet. Die Anschauung dieser Kette, das Bewusstsein ein Teil von ihr zu sein, kann den Glauben entscheidend stärken.

Die mystische Verbindung kann aber nur entstehen, wenn man von einem besonderen Verständnis von Zeit ausgeht und nicht in den Fehler verfällt, die Zeit analog zum Raum zu betrachten, also als einen Ort, an dem sich Dinge logisch und objektivierbar aneinanderreihen lassen. Diese Art von histoire geht am Wissen um die inneren Entwicklungen einer Epoche vorbei. Die versteht nur derjenige, der sie von innen erlebt, als mémoire.

Pèguys Gedanken ersparen dem modernen Menschen das ganze Elend der historisch-kritischen Forschung, weil Péguy es für falsch hält, mit dem Bewusstsein der eigenen Epoche objektivierend an die Erzählungen einer älteren Epoche heranzugehen. Taylor zitiert in diesem Zusammenhang das bekannte Wort des deutschen Historikers von Ranke, dass "jede Generation unmittelbar zu Gott ist" und versteht dies im Zusammenhang mit Péguy so, dass jede Generation  in Bezug auf ihren Glauben einzigartig ist und dass man sie letztlich nur aus ihren eigenen Beweggründen heraus verstehen kann.

Die früheren Generationen bieten den Folgegenerationen an, bildlich gesprochen ihre Hand zu ergreifen und mit ihnen eine Kette zu bilden, welche die Glaubenden aller Generationen untereinander verbindet. In der Kette finden sich sehr viele verschiedene Formen von Glauben, die jeweils für sich stehen und auch nicht in einem Akt rückwärts gewandter Nostalgie einfach nachgeahmt werden können. Für Péguy ist der Unglaube fast unmöglich - er äußert sich eigentlich nur darin, dass er eine ihm hingehaltener Hand nicht ergreift.

Péguy hat sein Lebenswerk nicht vollenden können, weil er als 41jähriger Soldat in den ersten Tagen des I. Weltkrieges gefallen ist. Seine Gedanken sind aber nahe mit den Gedanken des jüdisch-französischen Philosophen Henri Bergson (1849-1941) verwandt, der sie ausführlich entwickelt hat und für seine Schriften im Jahre 1927 den Literaturnobelpreis bekam.

Vielleicht ist das Buch von Taylor ein Anstoß, einen neuen Zugang zum Glauben der Alten zu gewinnen, indem man sich ihm mit Bergsons Gedanken und denen von Péguy nähert. Die Kette der Gläubigen, die am Ende bei Jesus ankommt, ist eine reiche Quelle der mystischen Anschauung, ist die Vision einer größeren Einheit, an der alle Menschen Anteil haben können.

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