Montag, 14. September 2015

Mein Alpenvater



Völs am Schlern, Südtirol

Hier im Alpengebiet zwischen Brennerpass und Bozen werde ich besonders an meinen Vater erinnert, der heute am Tag 95 Jahre alt geworden wäre. Seine ewig junge Hochstimmung beim Anblick der ersten Alpenberge kann ich jederzeit nachempfinden, sein Lied vom „Olmenwilly“ nachsingen (Joleradiho!) und seine angestrengte Arbeit bewundern, unsere Familie mit den fünf Kindern über die Alpen zu befördern. Das kann ich immer dann besonders würdigen, wenn ich links und rechts der modernen Brenner-Autobahn die alte Passstraße sehe, über die er sich damals noch samt Wohnwagengespann hinaufquälen musste.



Orte ziehen vorbei, in denen wir auf dem Weg an die Adria Halt machten. Vittipeno / Sterzing, Ora / Auer, Bressano / Brixen und andere mehr. In Auer gab es einen Campingplatz, auf dem wir häufig die zweite Übernachtung eingeplant hatten, auf den etwa 1.100 km von Remscheid nach Lignano, für die wir immer drei Tage brauchten.

Der Vater erzählte uns von den politischen Unruhen in Südtirol, wo damals in den 60er Jahre eine starke Untergrundbewegung die Unabhängigkeit der deutschsprachigen Provinz von Italien erkämpfen wollte. Achtungsvoll und ein wenig bang betrachteten wir die Hochspannungsmasten entlang der Straße – sie waren damals immer wieder Ziel von Bombenattentaten der Südtiroler Freiheitskämpfer.

Die Sympathien meines Vaters waren klar auf Seiten der Unabhängigkeit und des Deutschtums, obwohl – Bomben auf Hochspannungsmasten? Das ging ihm zu weit. Aber von Andreas Hofer konnte er erzählen, dem Tiroler Urbild aller deutschen Freiheitskämpfer! Später habe ich begriffen, warum ihn auch die Menschen in meiner Bergischen Heimat verehrten: es ging gegen Napoleon! Jede Art von Freiheit musste um 1815 gegen Napoleon gewonnen werden, dessen Truppen damals auch Remscheid besetzt hielten.

Entsprechend ist eine meiner wenigen Erinnerungen an einen kulturellen Programmpunkt unserer damaligen Familienferien der Besuch im Schlachtenmuseum am Bergisel, das heute „Tirol Panorama“ heißt und damals wie heute ein riesiges 360-Grad-Rundgemälde beherbergt, das den Freiheitskampf an diesem historischen Ort in vielen Einzelheiten festhält. Davon erzählte der Vater, und dahin brachte er uns eines Tages, als unsere Tagesetappe einmal in Innsbruck endete.

Was er nicht erzählte, war die unwürdige Rolle, die der Deutscheste alle Deutschen, Adolf Hitler, in der Geschichte Südtirols gespielt hat. Um seinen Spießgesellen Mussolini zu befriedigen, stimmte Hitler einer radikalen Italisierung Südtirols zu und lud die zu einer Randexistenz verurteilten armen Rest-Deutschen ein, „Heim ins Reich“ zu kommen. Wer dem Ruf nicht folgte (wie Luis Trenker) wurde verfemt, wer auswanderte und nach 1945 wieder nach Hause wollte, wurde dort als Faschist begrüßt.

Mein Vater, links im Bild,
mit seinem beiden Brüdern und seinen Eltern 
Ein wenig von dem Schmerz, eine nationale Identität zu haben, sie aber nicht richtig ausleben zu dürfen, habe ich damals zum ersten Mal begriffen. Später habe ich ihn bei den Einwanderern aus der Türkei und aus anderen Ländern wiedererkannt.

Aber über allem bleibt die jubelnde Freude des Vaters, der in den Alpenbergen eine Art von idealer, gewissermaßen dreidimensionaler Heimat wiedererkannte. Joleradiho!

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