Freitag, 9. Januar 2015

Mit 66 Jahren

Als am 21. Dezember Udo Jürgens starb, habe ich ein altes Songbook aus dem Keller geholt und einige seiner Lieder noch einmal gespielt. Mit 66 Jahren (da fängt das Leben an) war nicht dabei, es ist 1977 in einer Zeit erschienen, als ich andere Sänger interessanter fand als Udo Jürgens. Außerdem erinnere ich mich noch, dass mir das Lied nie gefallen hat. Mir war schon damals klar: mit 66 fängt das Leben nicht an, es fängt wohl eher an aufzuhören. Heute, an dem Tag, an dem ich 66 Jahre alt werde, sehe ich das noch deutlicher.


Was mich in diesen Tagen bewegt, hat viel mit der Reise zu tun, die ich via Internet über acht Kirchen in der ganzen Welt gemacht und über die ich im Blog berichtet habe. Ich habe mit Freude und etwas Neid das Leben dieser Kirchen gesehen und ihre offenkundige Fähigkeit, so in ihre Umwelt hinein zu sprechen, dass sie verstanden werden.
Dagegen erlebe ich meine eigene kirchliche Situation hier in Europa eher so, dass an vielen Orten die gepflegte Langeweile von Christen herrscht, die eigentlich alles haben, aber nicht mehr ihren Kindern erklären können, warum es sie gibt. Bei Charles Taylor, dessen Buch mich im vergangenen Jahr so tief beeinflusst hat wie lange kein anderes Buch mehr, habe ich eine große Bewunderung für das Leben in den Kirchen der Dritten Welt gefunden und gleichzeitig auch eine Erklärung dafür, warum in der Ersten Welt Stillstand und Müdigkeit herrschen.
Die jungen Kirchen profitieren anders als wir offenbar davon, dass in ihren Reihen große, tiefgreifende Lebensveränderungen stattfinden. So sieht es Taylor. Das erinnert mich an die Lebenszeugnisse frommer brasilianischer Fußballstars aus der Bundesliga, bei denen es immer wieder darum ging, wie man aus einem Milieu von Armut und Drogenabhängigkeit ausgebrochen war, indem man zunächst einmal die grundsätzliche Lebensentscheidung traf, Christ zu werden, sein Leben Jesus zu geben.
Diese Veränderung ist auch vor Zeiten einmal die Urfreude der Gemeinden gewesen, aus deren Bereich ich abstamme. Taylor erzählt derenGeschichte und auch den Fortgang der Gemeinden, die aus großen „Erweckungen" entstanden sind. Sie konnten ihren Kindern oder spätestens ihren Enkeln eines Tages dann nicht mehr erklären, was diese Erweckung für ihr Leben bedeutet hatte. Die nachfolgenden Generationen wurden in einer guten bürgerlichen Umgebung groß und kannten die Problematik eines zerrütteten und dann durch den Glauben geretteten Lebens nicht mehr. Die neuen Generationen kamen häufig ohne den Glauben aus, ohne dabei irgendwie wieder in die alten Lebensprobleme zurückzufallen.
Heute bilden sie dann Gemeinden (wenn sie überhaupt noch Gemeinden bilden), die sich den Luxus erlauben können, den verfeinerten Verästelungen des menschlichen Denkens nachzugehen. Sie versuchen, sorgsam über ihre eigenen Befindlichkeiten nachzudenken und diskutieren intensiv über intellektuelle zeitgenössische Fragen wie etwa der Rolle der Frau oder das persönliche Verhältnis zum Schutz der Umwelt.
Dagegen werden sie von der Faszination einer gelungenen Lebenswende nur noch selten berührt. Einen Hauch dieser alten Faszination habe ich persönlich noch gespürt, als ich mit der Gefährdetenhilfe Scheideweg in Kontakt kam und bei Einsätzen in Gefängnissen tatsächlich das Lebenszeugnis von Menschen hörte, deren Bekehrung ihrem Leben eine vollständige Wende gegeben hatte. Mit solchen Menschen zusammen zu sein brachte die alte Faszination der „Erweckungen“ noch einmal neu zum Leben, auch wenn man selbst nicht erweckt war, sondern eher neidisch neben einem der dramatisch Bekehrten saß und sich fragte, warum man selbst nicht zu diesem brennenden Glauben in der Lage war.
Michael Walrond
Nun habe ich aber bei meiner Reise durch die acht Kirchen am Ende doch noch eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man den Glauben auch dann noch mit Kraft predigen kann, wenn man nicht mehr in der frühen Erweckungsphase lebt. Am schönsten hat es für mich der in Harlem / NewYork predigende Michael Walrond getan, der über eine klassische Botschaft des jüdischen Volkes sprach, in der mein Problem überraschend klar beantwortet wird. Im 5. Mosebuch,  Kapitel 6 heißt es, wenn dein Sohn dich künftig fragt: was bedeuten die Zeugnisse und die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen, die der Herr unser Gott euch geboten hat? dann sollst du deinem Sohn sagen: Sklaven waren wir beim Pharao in Ägypten. Der Herr aber hat uns mit starker Hand aus Ägypten heraus geführt.
Die Predigt von der Befreiung aus Sklaverei und der Notwendigkeit, diese nie zu vergessen, klingt vor einem schwarzen Publikum, das die persönliche Erinnerung an die Sklaverei der Vorfahren noch in seinem Herzen trägt, natürlich stärker als vor weißen europäischen Bürgern. Sie ist aber immerhin so ansteckend, dass sie mehr und mehr auch weiße New Yorker in die Kirche von Pastor Walrond zieht.
Auch die koreanische Kirche, die ich virtuell besucht habe, hat zu einem ähnlichen Ansatz gefunden. Von ihr wurde eine Sozialarbeit unter Frauen begonnen, die zwangsweise in die Prostitution versklavt worden waren. Warum man gerade diese Arbeit im Bereich des human trafficking gesucht habe, haben konservative Kritiker gefragt, und Pastor Eddie Byun antwortet: weil die Christen um den Kern der Botschaft wüssten, dass der Glaube Menschen aus bondages, Bindungen befreit.
Ich habe im vergangenen Jahr beim Lesen einer Jesaja-Stelle die Erkenntnis gewonnen, dass seine Prophezeiungen selbst dann tief in der Seele verstanden werden können, wenn man den konkreten Sitz im Leben, also die Zeitspanne, in der sich die Prophezeiung erfüllt hat oder erfüllen wird, gar nicht kennt. Prophezeiungen sind mehr als bloße Vorhersagen, sie können wie eine Art Begleitmusik zu unserem Leben gespielt werden und uns wechselnd erzählen, dass Gott abgewendet erscheinen und ein anderes mal als Hoffnungsbringer erlebt werden kann. Das gilt entsprechend auch für die Predigt von der Sklaverei unter dem Pharao. Sie enthält eine immerwährende Wahrheit: wir kommen aus der Unfreiheit, und uns wird angeboten, auf den Wegen Gottes zu bleiben, damit diese Unfreiheit nicht wiederkehrt.
Eine solche Predigt kann die Müdigkeit der nachfolgenden Generationen, das Taylor-Problem, besiegen, genau dafür waren ja auch die Moses-Worte von Anfang an gedacht.
Ob diese Predigt auch für ein ganzes Leben reicht? Bei mir wird es in den nächsten Jahren darauf ankommen, die Begleitmusik in die Richtung zu verändern, dass Pilgermusik daraus wird, Marschmusik auf dem Weg in das schöne, jenseitige Land Kanaan, auf das wir alle zuzugehen hoffen. In meiner Gemeinde sang man früher das Lied herrlich, herrlich wird es einmal sein, wenn wir zieh‘n von Sünde frei und rein in das gelobte Kanaan ein. Ein wenig ist die Zeit über diese Worte hinweggegangen - aber vielleicht schreibt ja ein guter Musiker noch einmal ein neues Lied zu diesem Thema.
Ich würde es gerne mitsingen.

Keine Kommentare: