Sonntag, 18. Januar 2015

Das Raunen Gottes

Ist die Vorstellung erlaubt, dass Gott redet und dass sein Reden bei den Menschen nicht eindeutig ankommt? Das schöne Buch, in dem ich gerade lese, plädiert recht leidenschaftlich für diese Möglichkeit. Es lobt die Uneindeutigkeit und spricht dafür, dass wir in unserem Verständnis des Redens Gottes eine gewisse Unschärfe zulassen. Der Verfasser zeigt anhand der Lehre islamischer Schriftsteller des Mittelalters, dass es Perioden gegeben hat, in denen die Menschen es für einen Vorteil ansahen, von Gottes Worten mehrere Lesarten zu besitzen.

Eine Gnade für die Gemeinde seien Varianten im Korantext, sagt ein damals in hohem Ansehen stehender Kommentar (hadith) zum Koran. Erst die viel später einsetzende Aufklärung mit ihrer präzisen Frage nach dem wörtlichen Sinn eines Textes und ihrer Quellenforschung ("Was steht im Urtext?") habe es uns im Prinzip verleidet, eine Uneindeutigkeit zu akzeptieren. Das gilt übrigens für weite Bereiche der islamischen Forschung ebenso wie für uns. Die Aufklärung ist nicht nur bei uns angekommen.

Nun ist die Bibel mit ihrer reichen Überlieferungsgeschichte ganz von selbst von solchen Unschärfen nicht frei. An vielen Stellen setzt sie die Unschärfe sogar als direktes Mittel der Gottesrede ein. In den Prophetenschriften ist das Reden Gottes oft mit dem etwas rätselhaften Wort ne'um JHWH beschrieben, einem Begriff für ein leises Reden, ein Flüstern. Vielleicht ist es am besten übersetzt mit „ein Raunen Gottes“.

Etwa 300-mal findet sich im Propheten Jeremia der Ausdruck „so spricht der Herr", aber einmal abgesehen davon, dass es im Hebräischen immer etwas schwächer heißt „so sagt der Herr" ist etwa ein Drittel dieser Aussprüche Gottes mit dem Wort vom Raunen, ne'um JHWH, bezeichnet, einem oft wie in Klammern in den Text eingefügten Einschub. Die frommen Juden lesen an dieser Stelle ne'um Adonai und ersetzen den Gottesnamen ebenso wie wir mit der Bezeichnung für „Herr / Adonai“.

Nun sind die Aussprüche Gottes, die in dieser Weise als ein Raunen bezeichnet werden, durchaus in klare Worte gefasst. Aber indem der Sprecher sie als ein flüsterndes Raunen kennzeichnet, wird deutlich, dass er sie möglicherweise nicht in der gleichen Klarheit empfangen haben könnte, mit der er sie weitergibt. Vielleicht hat Gott ja sehr viel mehr gesagt, oder er hat Unaussprechliches hinzugefügt, von dem der Prophet jetzt nur eine auf den Verstand seiner Zuhörer zugeschnittene, verkürzte Form weitergeben kann.

Man hört offenbar auf Gott am besten mit Ohren, die nicht alles verstehen, man sieht nur gut mit Augen, die halb geschlossen sind. Dies sind natürlich keine Wahrnehmungen, die zu unserem aufgeklärten Denken passen. Aber sie bezeichnen doch den Weg zu einem mehrdeutigen Lesen der Heiligen Schriften. Dieser Weg ist an vielen Stellen unumgänglich, nämlich gerade da, wo die alten Texte nicht mehr in ihrer Urform vorliegen und uns in unverständlicher, teils nicht mehr übersetzbarer Weise überliefert werden. Das gilt dann auch für solche alten Texte, die uns in verschiedenen Formen überliefert sind - wie etwa die vier Evangelien, deren innere Widersprüche Generationen von Gelehrten beschäftigt haben.

Muss man die Widersprüche klären? Ich sehe in meiner Erinnerung den Vater vor mir, wie er mit großer Leidenschaft die wörtliche Wahrheit der Bibel gegen meinen aufgeklärten Onkel verteidigt, der eher der historisch-kritischen Forschung anhängt. Wenn ich Thomas Bauer und seiner Rede von der Ambiguität folge, dann waren das damals vergebliche Diskussionen, weil beide Kontrahenten von der falschen Voraussetzung ausgingen, die letzte Wahrheit über einen Text sei mit menschlichen Methoden herauszufinden.

Meinem Vater muss allerdings schon damals klar gewesen sein, dass es eine ganze Reihe von Stellen in der Bibel gibt, deren ursprüngliche Ausformung wir nicht kennen oder nicht mehr verstehen. Ein berühmtes Beispiel ist die Stelle aus Psalm 29,9, wo es heißt, dass die Stimme JHWHs die Eichen im Wald aufwirbelt oder gar köpft. Allerdings ist das Wort für Eiche nicht eindeutig, so dass man hier auch „Hirschkühe" übersetzen könnte, wobei dann das Verb "lässt sie kreißen" bedeuten müsste. Beide Varianten stehen nebeneinander, eine letztgültige Eindeutigkeit gibt es nicht.

Der Kirchenvater Augustinus hat die Problematik schon in der Zeit um das Jahr 300 n. Chr. gekannt und eine wunderbare, die Ambiguität nicht verleugnende Deutung* gegeben: die Eiche und die Hirschkühe seien ein Bild für das geheimnisvolle Dunkel, in welchem jede Art von Verdauung geschieht. Die Hirschkühe seien dabei, ihre Nahrung wiederzukäuen, und auch der Mensch solle die geistliche Nahrung des Wortes Gottes immer und immer wiederkäuen. Er solle zu den dunklen Textstellen zurückkehren und darauf hoffen, dass sich ihr Sinn am Ende erschließt.

Das Raunen Gottes - vielleicht überhören wir es viel zu oft, weil wir mit unserem aufgeklärten Verstand immer nur klaren Text erwarten. 

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

... die wörtliche Wahrheit der Bibel:
In der Gesprächsreihe mit dem Atheisten war wiederholt von Dekonstruktion die Rede, ohne daß immer klar war warum. Eine der weniger umstrittenen Thesen des Dekonstruktivismus als Textphilosophie ist, daß jeder Gebrauch eines Wortes dessen Bedeutung einerseits bestätigt und festigt und andererseits an ihr nagt und sie verschiebt. Die Bedeutung kann dem Wort über längere Zeit nicht die Treue halten, eine wörtliche Wahrheit gibt es nicht.