Mittwoch, 28. Januar 2015

Ambiguität und west-östliche Sexualität


Folgt man Thomas Bauers Kapitel über "Die Ambiguität der Lust“, dann hat die westliche Kultur sich im Mittelalter ein enges Korsett angelegt, was die Lust betrifft, und hat es später nicht mehr ablegen können, als nach der Kirche die Medizin das Thema zu kontrollieren begann. Am Anfang gab es die fromme Spannung zwischen sündhafter Lust und der kühlen Pflicht zur Fortpflanzung. Später schuf die Medizin mit ihrer „Deutungshoheit über das, was ‚Sexualität‘ hieß“ neue Spannungen. Bauer blickt kritisch vom Osten aus auf den Westen und meldet Zweifel an, ob es einen geschlossenen Bereich der menschlichen Natur, der "Sexualität" heißt, überhaupt gibt. Er schreibt dazu:

Niemand käme etwa auf die Idee, Trauer, Freude, Opernbegeisterung und Pollenallergie als Phänomene eines einzigen, klar abgrenzbaren Bereichs der menschlichen Natur zu betrachten, nur weil sie gleichermaßen die Aktivität der Tränendrüsen auslösen können. Im Falle der Sexualität geht man aber wie selbstverständlich davon aus, dass ein zärtlicher Kuss und Vergewaltigungen im Krieg ein und dem selben Bereich der menschlichen Natur zuzuordnen sind. Tatsächlich ist "Sexualität" aber ein modernes, westliches Konzept, dass erst im 19. Jahrhundert aufgekommen ist.
Bauer sagt: der orientalische Mensch hat, bevor er dem modernen westlichen Gedankengut begegnet, Sex ohne Sexualität. Wer ohne einen allumfassenden Begriff von Sexualität lebt, kann warmherzige Freundschaften von Mann zu Mann zulassen, die mit intimen körperlichen Gesten unterstrichen werden. Er würde nie sagen, dass die so ausgedrückte Freundschaft in dem Sinne "sexuell" ist, dass sie Ähnlichkeit mit der Liebe zwischen Mann und Frau hätte. Erst das westliche Verständnis von Sexualität als einem alle Regungen in gleicher Weise antreibenden Motor setzt körperliche Berührungen zwischen Männern der Anschauung aus, es handle sich um Homosexualität. Es wird streng zwischen "hetero" und "homo" unterschieden, was aber nur dann nötig ist, wenn Sexualität als ein großer Motivationskomplex verstanden wird, dessen Kraft überall wirkt und vom Menschen nur in verschiedene Richtungen gelenkt werden kann.
Bauer dagegen zeichnet ein Bild von Kulturen, die einen himmelweiten Unterschied machen zwischen der Liebe zwischen Mann und Frau und dem sinnlichen Reiz, der etwa vom Körper eines Halbwüchsigen oder eines Kindes ausgeht. Beides ist nicht dasselbe, weshalb auch Kinder in solchen Kulturen vielfach klar vor Missbrauch geschützt sind.
Ich weiß nicht, ob Bauer in allem Recht hat. Er zeigt aber deutlich einige Argumente auf, welche die sittliche Überlegenheit in Frage stellen, die der Westen beständig gegenüber dem Osten behauptet hat. Napoleon etwa hat bei seiner militärischen Kampagne gegen Ägypten gesagt, er wolle das Land von den Türken befreien, die Ägypten in Dekadenz und Barbarei geführt hätten.
Ein Rest von diesem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl ist immer noch dann zu spüren, wenn ein westliches Urteil über das Tragen von Kopftüchern gefällt wird. Hier kommt unser westliches Verständnis von „Sexualität“ zur Geltung und konkurriert mit der ganz anderen Art, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen zu bestimmen, die in östlichen Kulturen herrscht.
Was die angebliche Strenge des Islam bei sittlichen Verfehlungen betrifft, so behauptet Bauer, es habe in den islamischen Ländern des Mittelalters kein einziges Todesurteil wegen Ehebruchs gegeben. Das entsprechende Gesetz bestand zwar, aber es verlangte das Zeugnis von insgesamt vier Personen. Kaum jemand aber sündigt vor einer solchen Schar von Menschen.
Hier kommt Ambiguität als Gnadenmittel zur Geltung. Ähnlich ist es bei Jesus, der ebenfalls das Todesurteil über eine Ehebrecherin nicht aufhebt, die Strafe aber mangels geeigneter Vollzugspersonen nicht vollstreckt. „Wer ohne Sünde ist, werfe des ersten Stein.“ Und niemand ist da.
Die Welt braucht Menschen mit einem Sinn für Ambiguität.

 

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