Dienstag, 19. November 2013

Mein neuer Zugang zu Hegel


Vermittelt durch den kanadischen Philosophen Charles Taylor und die ersten 125 Seiten seines Hegel-Buchs
Man fängt am besten beim jungen Werther an, wie er da gleich zu Beginn des Romans im hohen Grase liegt, das Leben der Käfer und Pflanzen betrachtet, die Gegenwart des „All-Liebenden“ in sich und um sich herum spürt und sich danach sehnt, „ach, könntest du das wieder ausdrücken, … was so voll, so warm in dir lebt.“ Diese Sehnsucht gehört zu der Welt, in die Hegel hinein geboren wird.

Als der Werther im September 1774 zur Leipziger Buchmesse erschien, war der kleine Wilhelm Hegel in Stuttgart gerade vier Jahre alt geworden. Die Gedanken des Sturm und Drang müssen eine wichtige Rolle in seinen jungen Jahren gespielt haben, folgt man Charles Taylor. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem angemessenen Ausdruck, für die Taylor das Wort Expressivismus einführt, bildet gewissermaßen den einen Pol seines Denkens.
Den anderen bildet der Freiheitsbegriff von Immanuel Kant, untrennbar verbunden mit der Frage nach einer aus eigenem Nachdenken gewonnenen Mündigkeit in Bezug auf die moralischen Gesetze.
Man muss an dieser Stelle den Wald der philosophischen Begriffe betreten um die 
Charles Taylor, geb. 1931
in Montreal
Spannung zwischen beiden Polen zu verstehen, die das gesamte System des hegelschen Denkens durchzieht. Die Freiheit des Willens trägt bei Kant die Gefahr einer eher distanzierten Annäherung an die Umwelt in sich, in welcher vielfach das Ding an sich wie mit spitzen Fingern angefasst wird. Im Gegensatz dazu strebt der Expressivismus in der Art des jungen Werther nach einer Überwindung der Distanz, einer Vereinigung mit dem Weltganzen. Taylors zentrale These ist, dass diese Dialektik (der Ausdruck erscheint erst erstaunlich spät im Buch) der Kern des Hegelschen Denkens ist.
Im Zentrum seines Nachdenkens steht etwas, das vielleicht eine Besonderheit der deutschen Philosophie im weltweiten Zusammenspiel der Aufklärung ist: der Vorrang des sich selbst erforschenden Ichs. Es positioniert sich in der Mitte der inneren und äußeren Erscheinungen und will mehr sein als nur ein weiteres Objekt der Betrachtung für andere Subjekte. Es wird bei Hegel zum Zentrum des Gestaltens der Welt.
Bei ihm entwickelt sich nach und nach das System einer sich selbst denkenden und dabei die Welt entwickelnden Wirkmacht, einer Macht, die er Geist nennt. Dieser Geist lebt nicht in einem entfernten Himmel in Distanz zur Welt, sondern verwirklicht sich selbst in der Welt und mit ihr in einzelnen Individuen.
Ohne Welt ist Gott nicht Gott, hat Hegel über diesen Weltgeist gelehrt, was nicht atheistisch verstanden werden darf – Hegel hat sich Zeit seines Lebens immer als frommen Lutheraner angesehen. Gott denkt sich selbst und indem er das mitten in der Welt tut, erschafft und gestaltet er sie.
Die Kunst, sich selbst zu denken, sich selbst in einem größeren Zusammenhang der Dinge zu sehen, hat einer der Begründer des Sturm und Drang, der Philosoph Herder, mit dem schönen deutschen Wort Besonnenheit bezeichnet. Es ist eines der vielen Worte, die Taylor in seinem Buch im deutschen Original zitiert, immer mit einer offenkundigen Bewunderung für die Kraft der deutschen Sprache. Für einen deutschen Leser seines englisch geschriebenen Buches ist die Annäherung an solche Worte über das Englische hilfreich. Die Gedanken bewegen sich zunächst auf einer sprachlich einfacheren Hilfsebene, über welcher das komplexere deutsche Original dann wortmächtig aufscheint - manchmal auch ein wenig rätselhaft .
Sich selbst zu denken, sich als freien Willen zu erkennen, dabei aber nicht von dem System der anderen Erscheinungen getrennt zu sein, das ist die große Aufgabe der Zeit, von der Taylor sagt, dass Hegel sie in einzigartiger Weise gelöst habe. Man muss dazu in Bewegung geraten, schöpferisch sein, Geist sein. Schon bei Kant war der freie Wille nicht allein durch seine abstrakte Freiheit, sondern vielmehr durch seine Aktivität gekennzeichnet, nämlich als ein im Kern auf moralisches Handeln ausgerichteter Wille.
In Hegels Jugendzeit fällt die Französische Revolution, da ist er 19. Kant in Königsberg war damals bereits 65 Jahre alt, und an den Universitäten versuchten seine gelehrigen Schüler, seine Ideen weiterzuentwickeln. Das neue Ziel der Einheit mit der ganzen Natur stand, so deren Kritik am Altmeister, dem alten Ziel entgegen, ein Leben in der moralischen Freiheit zu führen, die Kant forderte. Freiheit war Distanz. Diese Distanz wollten die Jungen überwinden.
Abzugrenzen hatte man sich dabei von einem Verständnis von Natur, wie es einige radikale Aufklärer im englischen und französischen Ausland vertraten. Für sie war Natur ein reines Beobachtungsobjekt und als solches dann oft auch ein bloßer Spielball ungezügelter Kräfte. Das Ich existierte gar nicht, es wurde entsprechend der Lehre des Schotten David Hume lediglich als ein Bündel von Wahrnehmungen (bundle of perceptions) angesehen.
Dieses Verständnis von Natur und von menschlichem Subjekt war für Hegel und seine deutschen Zeitgenossen nicht mit dem Gedanken zu versöhnen, dass der Mensch als ein Teil dieser Natur bewusst und gestaltend in ihr lebte. (Generationen später hat Helmut Kohl einmal Margret Thatcher ausrichten lassen, sie solle mehr von  Gemeinschaft und weniger von Gesellschaft reden. Das ist ein Nachhall dieser Abgrenzung.)
Taylor ist immer da am besten zu verstehen, wo er philosophische Gedanken mit einem klassischen Gedicht erläutert. Das angestrebte Ziel, das Einssein des erkennenden Menschen mit der Natur drückt Goethe so aus:
Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt' es nie erblicken;
läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie könnt' uns Göttliches entzücken?


Manchmal ging der Versuch, das eine mit dem anderen zu versöhnen, auch schief - etwa in dem Ansatz des Philosophen Schelling, alle Widersprüche im Begriff des Absoluten aufzulösen. Hegel hat diesen Versuch abgelehnt und das Absolute als die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, lächerlich gemacht. Das hat Schelling, der Hegels Jugendfreund war, nicht gefallen.
Hegels Genie bestand offenbar darin, allen Widersprüchen so lange nachzugehen, bis er sie in ein einheitliches System gezwungen hatte. Er benutzte dazu Begriffe wie Identität der Identität und der Nichtidentität.
Hier beginnt für mich der tiefere Teil des bereits erwähnten Waldes der philosophischen Begriffe, von dem ich nach den ersten 125 Seiten des Buches nicht sagen kann, dass ich von seinen letzten Tiefen schon eine Ahnung habe. Möglicherweise helfen mir aber die restlichen 450 Seiten hier weiter.

 

 

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