Dienstag, 1. November 2011

Mit Goethe in kleiner Runde



Erinnerungen an den 1. November 1991, heute vor 20 Jahren

Jeder träumt davon, einmal im Leben mit einem berühmten Mann, sagen wir: Goethe, in kleiner Runde zusammen zu sitzen und diesen ganz persönlich fragen zu dürfen: "Sagen Sie mal, Herr Goethe, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie..." Mir ist das einmal im Leben passiert, zwar nicht mit Goethe, logisch, aber immerhin mit dem in seiner Beherrschung der deutschen Sprache an Goethe heranreichenden Schriftsteller Ernst Jünger. Mir ist bewußt, daß ich jetzt eine Geschichte erzähle, deren Zweck es sein könnte, mich in ein besonders günstiges Licht zu stellen. Aber da sonst niemand in meinem Umkreis etwas erzählen will, fange ich hier einfach einmal an.


Ernst Jünger war am Abend des 1. November 1991 im Haus meines Onkels Adalbert Bohle in Tübingen zu Gast, und ich durfte als Neffe dabei sein und ein wenig die weitere Familie vertreten. Mein Onkel war als Medizinprofessor mit einer Reihe von prominenten Leuten bekannt und war vor einigen Jahren bereits einmal mit Ernst Jünger zusammen eingeladen gewesen, im Hause des ehemaligen Regierungspräsidenten. Er hatte den von ihm schon in früher Jugend verehrten Schriftsteller häufiger in seinen Vorlesungen und Reden zitiert und dem Meister davon auch gelegentlich, nicht ganz uneitel, Kopien zugeschickt. Dieser hatte auf die eine oder andere Rede freundlich geantwortet, was den Onkel eines Tages nach wochenlangem Nachdenken den mutigen Entschluss fassen ließ, eine schriftliche Einladung nach Wilflingen zu schicken.

Ernst Jünger war dann mit seiner Frau per Taxi aus seinem eine gute Autostunde im Landkreis Biberach gelegenen Haus abgeholt worden und betrat am Begrüßungskomitee vorbei, das aus meinem Onkel und mir bestand, nun also das schöne Haus meines Onkels. Ich wurde als der Neffe Christian Runkel vorgestellt, wobei mein Onkel, der in ungewohnten Lebenssituationen immer wieder überraschende Einfälle entwickeln konnte, hinzufügte "Er ist Reserveoffizier". Nie vorher und auch nie wieder im späteren Leben bin ich an irgendeinem Ort der Welt so vorgestellt worden, auch wenn die Sache mit dem Leutnant der Reserve stimmt. Aber es wirkte irgendwie unangemessen, und ich hatte auch den Eindruck, dass Ernst Jünger mit dieser Vorstellung wenig anfangen konnte und nach einem flüchtigen Blick auf mich entschlossen weiter ins Innere des Hauses vordrang.

Liselotte Jünger
Dass er ein kleiner Mann war, wenig mehr als 1,70 m, wusste ich von Fotos, dass er trotz seiner 96 Lebensjahre noch sehr rüstig, fast drahtig ging, hatte ich erwartet, war aber dann trotzdem von so viel Spannkraft überrascht. Seiner um 22 Jahre jüngeren Ehefrau Liselotte, die Jünger 1962 als rüstiger Witwer geheiratet hatte, bereitete es nach meinem Eindruck einige Mühe, den federnden Schritten ihres Mannes die Treppe hinauf ins Obergeschoss zu folgen. Zu meiner Freude erkannte ich vom ersten Moment an den Gesichtszügen von Frau Liselotte die Merkmale, die ihr in seinen Büchern den Namen "Stierlein" eingetragen hatten: eine gerade Stirn, die im oberen Teil fast ein wenig nach vorne gewölbt war und die ihr zusammen mit einem kräftigen, etwas gedrungenen Körperbau, tatsächlich etwas Stierhaftes und Willensstarkes gaben. In meiner späteren Erinnerung sind in der Stirn zwei kleine Hornansätze vorhanden und darüber ein leicht gekräuseltes Stierhaar, aber hier spielt mir meine Fantasie offenkundig einen Streich.

Im Verlauf des Abends wurde recht bald deutlich, dass der verehrte Meister in allem das geblieben war, was er mit seinen Kriegstagebüchern in der Erinnerung der meisten seiner Leser war: ein Soldat. Er saß kerzengerade in seinem Sessel, sprach ein wenig näselnd und hätte nach meinem Eindruck keine Probleme gehabt, sogleich auch in einen schnarrenden Kasernenhofton zu verfallen, wenn es nötig gewesen wäre. Allerdings blieb er den ganzen Abend über der freundliche Gast, der auf Bemerkungen der anderen Gäste häufig mit einem nachfragenden "Äh, ja?" reagierte und der sich während der etwa drei Stunden seines Besuches lebhaft am Gespräch beteiligte.

Im Vorfeld war befürchtet worden, dass er schlecht gelaunt und schweigend in der Runde sitzen könnte, das war wohl bei früheren Besuchen im Haus des Regierungspräsidenten gelegentlich der Fall gewesen. Mein Onkel hatte deshalb den mir im Nachhinein waghalsig erscheinenden Entschluss getroffen, den Abend in gewisser Weise einem Moderator zu überlassen. Dieser erschien in der Form eines jungen Philosophieprofessors, Sohn eines ebenfalls anwesenden Kollegen des Onkels. Dieser Sohn, ein gut aussehender, medial gewandter Mann, ergriff zu einer längeren Vorrede das Wort, in welchem er umständlich davon berichtete, dass Jünger auch "für unsere Generation interessant" sei und deshalb auch "in meinem Werk vorkommt". Tatsächlich brachte er dann wenige Monate später auch ein Buch über Jünger heraus.

Ich hatte erwartet, dass Ernst Jünger ob dieser eher in eine Talkshow passende "Anmoderation" jetzt die befürchtete schweigende und missgelaunte Phase einlegen würde, aber offenbar war auch ihm daran gelegen, für die jüngere Generation "interessant" zu sein, und er beantwortete bereitwillig alle Fragen des jungen Professors, die leider allesamt wenig mit dem zu tun hatten, was mich persönlich an Ernst Jünger interessierte.

Bald merkte ich, dass Ernst Jünger eine ganz eigene Taktik benutzte, um nur auf solche Fragen antworten zu müssen, die ihn selbst interessierten: er spielte seine Schwerhörigkeit aus. Wenn ihm ein Redebeitrag aus der Runde, in der natürlich nur ein einziges Gespräch verfolgt wurde, interessant zu sein schien, legte er eine Hand hinters Ohr und fragte dann wohl auch gelegentlich - "Äh, ja?" - beim Sprechenden nach. Oft kreisten seine Antworten dann allerdings um ganz andere Aspekte als die Fragen. Manches ignorierte er sogar voll und ganz – er hatte wohl bei sich beschlossen, es nicht gehört zu haben.

Hier muss ich einfügen, dass insgesamt 15 Personen im Raum waren, das waren außer Ernst Jünger und seiner Frau, meinem Onkel und meiner Tante noch drei weitere Ehepaare, außerdem die Witwe des bekannten Tübinger Philosophen Otto Friedrich Bollnow und ein alter schwäbischer Pastor und Freund meines Onkels. Die Gäste waren bereits längere Zeit vor Ernst Jünger eingetroffen, und es hatte sich bald ein reger Austausch über das, was jeder einzelne ihn fragen wollte, ergeben. Zettel wurden gezückt und wieder in Anzugtaschen verstaut, Themenschwerpunkte wurden angedeutet, die direkten Fragen aber ausgeklammert, offenbar aus Furcht, jemand anders könnte sie einem wegnehmen. Es stellte sich bald heraus, dass die meisten Gäste mit dem präzise vorbereiteten Plan hierhergekommen waren, für den Rest ihres Lebens die eine Geschichte erzählen zu können, die mit den Worten beginnen würde, "Ich habe Ernst Jünger einmal gefragt".

Nach meiner Erinnerung sind zumindest die fünf älteren Herrn und der junge Philosophieprofessor hier mit einem kleinen Schatz an zitierfähigen Passagen nachhause gegangen. Ich selbst bin leer ausgegangen, weil ich angesichts der sich mächtig aufbauenden Eitelkeit und meiner sich parallel dazu verstärkenden Schüchternheit meine eigene Frage aufgegeben und sie an meinen Onkel abgetreten habe, der sie im weiteren Verlauf dann auch stellte.

Ich hatte damals die neueren Tagebücher von Ernst Jünger gelesen, und zwar sehr gerne gelesen. Sie kamen seit 1980 in kurzer Folge unter dem Serientitel "Siebzig verweht" heraus, der sich auf die Zeit nach Ernst Jüngers 70. Geburtstag im Jahre 1965 bezog. Mir gefielen die mutigen Reisen des älteren Herrn und seines "Stierleins", die wunderbar präzisen Beschreibungen von Flora und Fauna (Ernst Jünger ist ein sehr kundiger Biologe), seine eingestreuten Gedanken über andere Schriftsteller, die tieferen Urgründe in den Sitten und Gebräuche der von ihm besuchten Völker und vieles andere mehr. Ich glaubte damals in ihm einen Seher entdeckt zu haben, der einen vollkommen natürlichen Zugang zur jenseitigen Welt hatte und bei dem deshalb auch nie ein einziges kritisches Wort gegenüber einem Zeugnis des Glaubens zu finden war. Ich konnte deshalb mit Recht sagen, dass er mir geholfen hatte, einige Zweifel und Bedenken in meinem eigenen Glauben auszuräumen, und meine Frage an ihn wäre also gewesen, ob ihm die Rolle als Förderer des Glaubens gefalle.

Als mein Onkel gegen Ende des Abends auf seinen vorbereiteten Zettel blickte und dann Ernst Jünger fragte, ob er etwas dagegen hätte, wenn sich Menschen durch seine Bücher im christlichen Glauben bestätigt fühlten, ließ er sich erst - "Äh, ja?" - die Frage wiederholen und antwortete dann, nein, er habe nichts dagegen, aber das gleiche gelte auch für Moslems. In meiner Erinnerung ließ er danach ein meckerndes Kasernenhoflachen erklingen und wendete sich schnell anderen Themen zu.

Spätestens in diesem Moment ist er für mich zu einem Orakel geworden, dessen Aussagen bewusst unpräzise gehalten waren. In einem eigenartigen Gedankengang hatte er zuvor erklärt, dass er gerne die französische Übersetzung seiner Texte lese, die seien „weniger ambivalent“ als die Originale. Die Originale seien allerdings, so sagte er, "genauer". Wie sollte man das verstehen? Bestand die Genauigkeit seiner Werke in ihrer Ambivalenz? Mir erschienen am Ende alle seine Antworten - Hand an das schwerhörige Ohr - eher unbestimmt und ins Allgemeine gehend. Präzise war er nur bei einem wichtigen Punkt seines Lebenswerkes, der Erkenntnis eines heraufkommenden Imperiums von "Titanen". Hier habe er sich in die Erbfolge von Hölderlin und Nietzsche eingereiht und immer wieder über das Heraufkommen eines Staates geschrieben, in welchem "Der Arbeiter" als Repräsentant einer übermächtigen Maschinenwelt regiert. Aber gerade diese Erkenntnisse sind nach meinem Eindruck in seinen Büchern so allgemein gehalten, dass sie für eine tiefere Durchdringung der heutigen Welt bestenfalls vorsichtige Ansätze liefern können.

Der Chronist, in 1991
Ich bin ein Mensch, der schnell für die Bewunderung großer Menschen zu gewinnen ist. Ich habe bei einer anderen Einladung im Hause meines Onkels zwei Theologen der Tübinger Fakultät aus der Nähe kennen gelernt und meine Verehrung für sie in großem Maße gesteigert. Bei Ernst Jünger war es eher umgekehrt. Mir gefielen zwar zunächst seine soldatische Art und der Eindruck, dass der ganze Abend auch an einem Lagerfeuer im Felde stattfinden könnte. Ernst Jünger stellte sein Weinglas, das ich ihm in schneller Folge mit Châteauneuf-du-Pape nachfüllte, auf sein linkes Knie und bedeckte es fast während der ganzen Zeit mit der Hand, gerade so, als ob er es vor Insekten schützen müsste, die um ein imaginäres Feuer flogen. Ich erinnerte mich daran, dass er gelegentlich den Herausgeber des "Spiegel", Rudolf Augstein, zu einem Trinkgelage nach Wilflingen "einbestellte", wie Augstein das nannte. Die beiden sehr unterschiedlichen Männer schätzten sich. Aber trotz aller soldatischer Erdverbundenheit und Trinkfestigkeit erschien mir bei Jünger doch am Ende alles zu unbestimmt, zu sehr in eine Meta-Welt abgehoben, von der niemand sagen konnte, ob sie wirklich existierte.

Eine Viertelstunde nach Neun wurde dann das Taxi wieder gerufen, und Ernst Jünger schritt zum Auto, noch steifer als bei der Ankunft. Ich führte das auf die etwa eineinhalb Flaschen Châteauneuf-du-Pape zurück, mit denen ich ihm im Verlaufe des Abends sein Glas nachgefüllt hatte. Das Stierlein verabschiedete mich höflich als "Herr Bohle", was mich freute, der Meister selbst gab mir und den meisten anderen keine Hand, er war aber auch zu sehr damit beschäftigt, beim aufrechten Gang zu bleiben. Und ich war also bei meinem ganz persönlichen Goethe zu Tisch gewesen.


Jünger-Haus in Wilflingen bei Biberach, heute Museum

Nachzutragen ist, daß zu Jüngers 100. Geburtstag im Jahr 1995 Helmut Kohl und François Mitterrand in Wilflingen erschienen und mit Jünger am Küchentisch letzte, erhabene Weisheiten austauschten. Das heißt - ganz so kann es nicht gewesen sein, denn ein Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes erzählte mir später, Helmut Kohl habe nicht verstanden, was dieser von ihm als Pressegag empfundene Auftritt darstellen sollte.




Tante und Onkel, im Sommer 1991
 
Ernst Jünger ist 102 Jahre alt geworden und im Februar 1998 gestorben. Mein Onkel ist in Wilflingen auf der Beerdigung gewesen und hat mir in einem langen Telefonat davon berichtet. Es war eins der letzten unserer lebenslangen Gespräche, denn wenige Wochen danach ist er selbst gestorben, im Mai 1998, plötzlich und friedlich, beim Golfspielen. Das "Stierlein" hat bis 2010 gelebt und ist 93 Jahre alt geworden, sagt Wikipedia. Noch am Leben ist zu meiner großen Freude meine Tante. Sie wird in diesem Jahr 90 Jahre alt - und spielt immer noch Golf.

Jetzt habe ich aber alles erzählt!

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Nun erzähl auch noch von Kempowski, da war ich dabei und kann besser urteilen. Oder hast Du schon erzählt, und ich hab's vergessen?