Mittwoch, 29. April 2009

Walter Kempowski, geb. 29. April 1929





Heute vor 80 Jahren wurde der Schriftsteller Walter Kempowski in Rostock geboren. Ich habe ihn im Gegensatz zu meinem vier Tage älteren Onkel, über den ich am Samstag schrieb, persönlich kennengelernt, und zwar an einem der monatlichen Literaturnachmittage, an denen er sein Haus in Nartum bei Bremen einem größeren Publikum öffnete*.

Er ist einer der wenigen Prominenten, von denen ich im beiläufigen Ton prahlen könnte: "Er hat mir einmal gesagt, daß ...." Was hat er mir gesagt? Daß sein Verleger Knaus versprochen hat, ihm zu seinem 80. Geburtstag, das wäre also heute einlösbar gewesen, eine Gesamtausgabe zu schenken. Den Autor habe ich unverzeihlicherweise wieder vergessen - Jean Paul, Montaigne, Goethe, Thomas Mann? Ich weiß es nicht mehr.

Was ich noch weiß, ist, daß ich damals im Dezember 2005 zusammen mit Peter Oberschelp und einigen wenigen Leuten aus den damals etwa 50 Besuchern in die erste Etage mitkommen durfte, wo sich sein Arbeitszimmer befand. Dort gab es neben anderen Dingen Ordner zu sehen, die säuberlich mit der Hand beschriftet waren und Material zu den zuletzt erschienenen Büchern enthielten. Auf einem großen Tisch lagen ausgedruckte Manuskriptbände, in DIN A 4 und dick wie Telefonbücher.

Eines davon nahm Kempowski in die Hand. Es sei fertig und würde bald erscheinen, "Hamit" würde es heißen, was "Heimat" bedeute. Er warf es mit einer lässigen, zufrieden wirkenden Handbewegung auf den Tisch zurück, wo es mit lautem Knall aufschlug. Die kurze Szene erinnerte mich an Besuche bei hiesigen Werkzeugfabrikanten, die meist am Ende der Firmenpräsentation die Packstube zeigten und dort die fertigen Produkte des letzten Tages. Der Stolz auf das Geleistete war hier wie dort offenbar derselbe.

Am 5. Oktober 2007 ist er gestorben. Er ist mir unter den deutschen Autoren der Gegenwart der liebste.

* Seine Frau Hildegard führt die Nachmittage weiterhin durch, man kann es auf der Homepage des Hauses nachlesen.

Samstag, 25. April 2009

Christian Runkel, geb. 25. April 1929





Heute vor 80 Jahren wurde mein Onkel Christian Runkel in Remscheid geboren. Ich habe ihn nicht kennengelernt, weil er bereits im Kindesalter starb, am 19. September 1931. Aber ein Foto von ihm hat sich trotzdem unauslöschlich in mir eingeprägt, wie er da aufgebahrt in einem Kranz von Blumen liegt, gerade als ob er nur schliefe.

Das Bild war gleich mehrfach vorhanden, in der Kiste der Großmutter, in der sie alte Erinnerungen* der Familie aufbewahrte. Ein schönes Kind mit gleichmäßigen Zügen, die geschlossenen Augenlider von langen Wimpern gesäumt. Daß der kleine Christian, jüngster der fünf Söhne meiner Großeltern, besonders hübsch war, davon erzählte die Oma immer wieder. In meiner Erinnerung wird sie niemals müde, sich das Bild des im liebenswertesten Alter an einer Kinderkrankheit – einer Gehirnhautentzündung, glaube ich – gestorbenen Sohnes mit einem gewissen andächtigen Stolz anzusehen.

Ist sie nicht trotzdem gelegentlich unwillig, uns wißbegierigen Enkeln die Bilderkiste zu öffnen? Weint sie manchmal beim Blick auf die Blumen und den kleinen Sarg? Ich weiß es nicht mehr. Die Oma ist eine strenge, christliche Frau, im Luthertum erzogen, später aus Liebe zu ihrem Mann zu dessen kleiner, ebenso strenger Freikirche übergetreten. Daß der Herr im Himmel gibt und nimmt und daß man seinen Namen über beidem, dem Geben und dem Nehmen, preisen soll, das hat sie früh gelernt. Schon das zweite Kind stirbt ihr frühzeitig, der kleine, nicht lebensfähige Zwillingsbruder meines Vaters. Später sind die drei überlebenden Söhne Adolf, Hermann und Johannes viele Jahre im Krieg, Hermann kehrt erst 1949 aus der Gefangenschaft zurück.

Aber die Jahre der Ungewißheit und des Mangels an den allermeisten Gütern waren in ihren Geschichten auch die Jahre der erhörten Gebete, der von Gott geschenkten Geduld und der von den Nächsten erwiesenen Hilfe.

So war auch das Schicksal des kleinen Christian bei Gott aufgehoben – und dasjenige des Christians der nächsten Generation, meines also, in gleicher Weise. Heute denke ich, daß die Sorge, auch mich eines Tages unzeitig begraben zu müssen, bei der Oma immer gegenwärtig war, wenn sie uns beide betrachtete – den kleinen Christian von 1929 auf dem Bild und den damals kaum älteren von 1949 lebendig vor sich, der eine dem anderen sogar ähnlich. Es war zwar niemals Angst in dem hellen kleinen Haus der Großmutter spürbar, aber mit dem Tretroller auf die Dorfstraße zu fahren, das war zu meinem Leidwesen viele Jahre strengstens verboten.

*meine Schwester Esther, bless her heart, hat eine ähnliche Kiste und hat mir daraus das Foto heute gescannt und gemailt.


Dienstag, 21. April 2009

Mehr Updike-Gedichte

















Needle Biopsy 12/22/08

All praise be Valium in Jesus’ name:
a CAT-scan needle biopsy sent me
up a happy cul-de-sac, a detour not
detached from consciousness but sweetly part—
I heard machines and experts murmuring about me—
a dulcet tube in which I lay secure and warm
and thought creative thoughts, intensely so,
as in my fading prime. Plans flowered, dreams.

All would be well, I felt, all manner of thing.
The needle, carefully worked, was in me, beyond pain,
aimed at an adrenal gland. I had not hoped
to find, in this bright place, so solvent a peace.
Days later, the results came casually through:
the gland, biopsied, showed metastasis.


Nadelbiopsie 22.12.2008

Preis sei dem Valium, in Himmels Namen:
ein C-A-T entführte mich in einen
cul-de-sac des Glücks, Umweg zwar wohl,
doch nicht vom Leben weg, nur freundlich seitwärts —
Maschinen und Experten leise murmelnd —
und ich in süßer Röhre, warm und sicher,
große Gedanken wiegend, konzentriert,
fast wie ein Junger. Pläne, Träume reiften.

Alles wird gut, so sagte mein Gefühl,
die Nadel in mir, fein gewirkt und schmerzlos,
fand eine Lebensdrüse. Frieden floß
ganz unerwartet an dem lichten Ort.
Dann später, fast beiläufig, das Ergebnis:
die Drüse, biopsiert, wies Metastasen auf.



Evening Concert, Sainte-Chapelle

The celebrated windows flamed with light
directly pouring north across the Seine;
we rustled into place. Then violins
vaunting Vivaldi's strident strength, then Brahms,
seemed to suck with their passionate sweetness,
bit by bit, the vigor from the red,
the blazing blue, so that the listening eye
saw suddenly the thick black lines, in shapes
of shield and cross and strut and brace, that held
the holy glowing fantasy together.
The music surged; the glow became a milk,
a whisper to the eye, a glimmer ebbed
until our beating hearts, our violins
were cased in thin but solid sheets of lead.


Abendkonzert, Sainte-Chapelle

Berühmte Fenster, brennend in dem Licht
das nordwärts hin zur Seine überströmt;
wir rascheln zu den Stühlen. Dann Geigen
mit Vivaldis Stärke protzend, später Brahms.
Die Leidenschaft der Töne schien dem Rot
allmählich alle Stärke zu entziehen
und auch dem Flammenblau. Am Ende hörten
Augen nur das Schwarz der dicken Linien,
der Kreuze, Streben, Klammern, nur noch das,
was Halt dem Heiligspiel der Farben gab.
Musik schwoll weiter an, Glanz wurde Milch,
ein Augenflüstern nur noch, letztes Glitzern.
Und unsere Herzen, unsere Violinen
verschlossen sich in dünnes, festes Blei.

Samstag, 11. April 2009

Zu verkaufen







Unser Ferienhaus in Holland steht zum Verkauf. Die Gemeindeverwaltung möchte, daß wir den Platz verlassen, weil sie sagt, daß wir uns dort illegal aufhalten. Eine kommunale Satzung von 1975 verbietet es in vielen Dörfern von Walcheren, hier eine „Tweede Woning“ zu unterhalten, einen zweiten Wohnsitz. Meine Geschwister und ich haben durch alle Instanzen geklagt, um die meinem Onkel zugestandene Ausnahmegenehmigung zu erhalten. Er hatte das Haus vor 1975 gekauft und war von den Einschränkungen frei. Wir haben am Ende nichts erreichen können.

Nun machen wir zusammen mit den Kindern einen Abschiedsbesuch. Seit etwa 1980, als mein Vater das Haus von meinem Onkel übernahm, sind wir praktisch an jedem Ostern hier gewesen, meist auch in den Sommerferien und an vielen anderen Tagen des Jahrs. Die Kinder lernten hier Fahrradfahren, Schwimmen, Windsurfen und vieles mehr. Entsprechend groß ist bei ihnen die Nostalgie.

Bei mir bleibt eher ein enttäuschter Zorn. Das Gesetz von 1975 hat längst seinen Sinn erfüllt, die Ortskerne sind frei von Touristen, selbst im Januar ist unsere Straße voll mit geparkten Autos der Anlieger. Man könnte das Gesetz mit Ausnahmeregelungen versehen, statt dessen treibt man auch die letzten Fremden aus und verweist sie auf die Bungalowparks am Ortsrand. Dort wohnen die Meiers und Schulzes aus Recklinghausen. Und ich habe doch hier so schön Holländisch gelernt und wollte immer mit einer zweiten, niederländischen Identität am Ort leben.

Im ersten Gespräch mit der Kommunalverwaltung, das ich natürlich in Holländisch geführt habe, wurde deutlich, daß man die Ortssatzung „aus Prinzip“ nicht liberal auslegen will. Ich habe den Vorwurf geäußert, das sei Calvinismus. Vielleicht war das unklug. Aber es war richtig.

Sonntag, 5. April 2009

Ein Gedicht von John Updike





Fine Point
December 22, 2008

Why go to Sunday school, though surlily,
and not believe a bit of what was taught?
The desert shepherds in their scratchy robes
undoubtedly existed, and Israel's defeats -
the Temple in its sacredness destroyed
by Babylon and Rome. Yet Jews kept faith
and passed the prayers, the crabbed rites,
from table to table as Christians mocked.

We mocked, but took. The timbrel creed of praise
gives spirit to the daily; blood tinges lips.
The tongue reposes in papyrus pleas,
saying, Surely - magnificent, that "surely" -
goodness and mercy shall follow me all
the days of my life, my life, forever.

(hier kann man sich das Gedicht laut vorlesen lassen und eine Erklärung aus der New York Times lesen)


Feinschrift
22. Dezember 2008

Warum zur Sonntagschule geh’n, unwillig,
und nichts von dem zu glauben, was man hörte?
Es gab sie ja, die armen Wüstenhirten,
die Niederlagen des erwählten Volkes –
des Tempels hohe Heiligkeit zerstört
durch Babylon und Rom. Und doch, die Juden
behielten ihren Glauben, und sie gaben
Gebete weiter, krause Rituale
von Tisch zu Tisch, und Christen lachten drüber.

Wir lachten, doch wir nahmen. Psalmenjubel
gibt Geist dem Alltag, Blut den Lippen.
Uralte Worte kräftigen die Zunge,
sie sagt Gewiß – groß, dies „gewiß“
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen
mein Leben lang.
Mein Leben. Für immer.


John Udpike lebte vom 18. März 1932 bis zum 27. Januar 2009.
Sein letzter Gedichtband
Endpoint erscheint in diesen Tagen.
Die Übersetzung habe ich gemacht, fehlerhaft, ich weiß...